Komm, mein Mädchen!

Ich traf sie an einem Morgen, der zu warm war für den Monat, den der Kalender von sich behauptete in diesen Tagen. War in Eile, hatte einen Termin, kurze Zeit später, zu dem ich hetzenden Schrittes bereits unterwegs war. Im Gehen las ich die Zeit ab, als ich sie plötzlich erspähte – und etwas an ihr mich zwang, meine Schritte zu verlangsamen. Sie war schmal und klein; sehr klein. Es war nicht das Klein der alten Leute, wie sie so gen ihres eigenen Ursprungs zurück schrumpeln mit den Jahren, es war ein Klein, das immer schon gewesen sein musste, nicht erst mit dem Alter gekommen. Ihre Augen blitzten hellwach; da lag etwas in ihrem Blick, was zu deuten mir nicht gelingen wollte. Als ich sie entdeckte, stand sie, den Oberkörper über einen Stock gebeugt, vor einem Hauseingang an der belebten Straße, von der die Stadt in eine Acht und eine Sechs hinter der Elf geteilt wird. Sie schaute unschlüssig, dribbelte mal ein Schrittchen vor, mal eines zurück, sah sich um, stand still. Sah sich nur um. Entdeckte mich. Lächelte. Schaute unter sich. Und da bebte plötzlich etwas durch ihren Körper, einem Schluchzen gleich – obschon ich mich im Nachhinein fragte, ob es Erregung gewesen ist?

Ich bin nicht wie ihr... (Foto: Dieter Schütz/pixelio.de)

Ich bin nicht wie ihr… (Foto: Dieter Schütz/pixelio.de)

Ich lief zu ihr und fragte, ob ich ihr helfen könne. Kaum dass ich auf einer Höhe mit ihr war, ließ sie eine Hand von ihrem Stock gleiten und umfasste damit meinen Unterarm. Ich war erstaunt von dem festen Griff ihrer kleinen, faltigen Hand, unter deren Haut sich blau ihre Adern abzeichneten. Und etwas lag in diesem Erstaunen, dass sich schnell in meinem Körper ausbreitete, ohne mir seinen Namen zu verraten. „Nach da!“, deutete sie mit ihrem Stock nicht über-, sondern weg von der Straße. Ich hatte geglaubt, sie brauche Hilfe beim Überqueren, stattdessen schob sie mich nun, beide Hände um meinen Arm gekrallt – den Stock hatte sie mir übergeben – in Richtung eines Bäckers. „Mohnstreusel!“, forderte sie, im Inneren der kleinen Stehbäckerei. „Der ist leider aus“, entschuldigte sich die Verkäuferin. „Saftladen!“, fauchte die Alte an meinem Arm – und ich lächelte etwas hilflos hinter den Tresen, wo zwei Verkäuferinnen die Brauen hoben. Vor dem Bäcker schaute ich ratlos zu ihr herunter. Und ein wenig hilflos nach meinem Arm, der langsam taub wurde. Fragte, ob ich sie zum Bus bringen könne, womit ihr nun sonst geholfen wäre? Mit einer Stimme, die so gar nichts mit dem Keifen im Bäcker zu tun zu haben schien, schmeichelte sie, „einen Kaffee möchte ich trinken, aber nicht allein, bitte!“ – und deutete mit einer Kopfbewegung hinüber zu einer anderen Bäckerei.

Meine innere Abwehr gegen das Krallen und Gezerrtwerden war mittlerweile groß, doch ich schämte mich dafür und sagte mir im Stillen, wie hilflos und einsam das Bündel Mensch an meinem Arm sein musste: gleich einem Säugling, nur flinker – und meine Abwehr nicht angebracht. Also beschloss ich, der Alten ihren Wunsch zu erfüllen. In der Bäckerei bestellte sie mit kläffender Stimme Kaffee und ein Stückchen, die junge Verkäuferin brachte uns die Bestellung und es schien, als wolle sie Teller und Tasse lieber aus sicherer Entfernung herüberschmeißen, als sich uns zu nähern. Die Augen, dachte ich bei mir, sie hatte die Augen der Alten gesehen; etwas lag darin, was auch mich beklemmte. Sie begann zu erzählen. Von ihren beiden Söhnen, den nutzlosen Stümpern, sowie deren Ehefrauen, den dreckigen Flittchen. Einen, so bellte es aus ihr heraus, hatte gnädig der liebe Gott geholt, da war er Anfang dreißig. „Nachgeholfen hat er selbst noch!“, begann der Satz, der mit der Verzweiflung eines Menschen auf den Gleisen endete. „Richtig so!“, funkelte sie zu mir herüber – und da waren wieder diese Augen. Seine Frau, die habe anschließend eine Fehlgeburt gehabt, „zum Glück!“, glitzerte sie mich an.

Ich wollte etwas sagen, doch mein Mund schwieg stumm. Ich staunte das zarte, kleine Paket Mensch zu meiner Linken an und begriff nicht die vergifteten Worte, die aus ihr quollen. Es war, als kämen ihre Erzählungen in einer fremden Sprache aus der Alten herausgesprudelt, die ich mir später erst übersetzen müsste; und dann waren es wieder ihre Augen, die mich lähmten und an ihrer Seite hielten, für die Geschichte über den zweiten Sohn. „Fünfunddreißig Jahre!“, verkündete sie, habe es gedauert, ihn und seine Frau, das „nutzlose Stück“, auseinander zu bringen. Am Ende habe sie, die Mutter, über das „Flittchen“ gesiegt. Auch hier keine Kinder, „wahrscheinlich war die ausgetrocknet!“, frohlockte sie – dann senkte sich ihr eiserner Griff wieder auf meinen Arm und plötzlich wurde ihre Stimme eine andere: fast weich, vornehmlich aber weinerlich. „Er redet nicht mehr mit mir, mein Mädchen!“, brach es aus ihr heraus. Und mit den wenigen Worten die Wut und Verzweiflung über einen Sohn, der den guten Willen hinter den Taten seiner Mutter nicht erkennen konnte. Sie erinnerte mich nun an die eine, unter deren strengem Blick ich viele Jahre in sanftem Lilablau erstarrt gewesen war, weil das Schicksal mich einst zur Frucht ihres Leibes gemacht hatte.

Ich zahlte, wir gingen und sie ließ sich von mir zur nächstgelegenen Bushaltestelle begleiten. Wenn ich noch lange so mit ihr liefe, würde ihr eiserner Griff bald alles Blut aus meinem Arm gepresst, alle Wärme aus meinem Körper vertrieben haben. Als ich mich schließlich von ihr verabschiedete, griff ihre knochige, alte Hand nach meinem Haar und ich konnte den bläulichen Schimmer hinter der dünnen Haut neben meinem Gesicht tanzen sehen. „Dich, ja, dich hätte ich lieben können, das habe ich gleich erkannt!“, flüsterte der Klang ihrer Stimme sich drohend in meine Richtung – und darin lag ein Urteil, welches mich so schreckte, dass ich nicht anders konnte als zu rennen. Rannte, nur rannte und hörte nicht auf damit; bis ich endlich schwitzend und blutig in eine Wiese fiel, weit vor den Toren der Stadt, ein einzig verzweifeltes Lied auf den bebenden Lippen: „Ich bin nicht wie ihr! Ich bin nicht! Wie ihr! Bin nicht, ich bin, ich bin nicht wie ihr!“

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