Nicht einen Gedanken

Es herrscht große Aufregung unter den Geschöpfen des Himmels. Seit Stunden können sie den Engel der Liebe nirgendwo finden. Gemeinsam treten sie vor den Herrn, um ihm die Nachricht zu überbringen – der Engel der Liebe ist verschwunden. Gott aber wundert sich nicht über ihre Worte, denn er hatte bereits gespürt, dass irgendetwas in Unordnung geraten war. So suchen sie ihn also gemeinsam, die flügelschlagende Engelschar und ihr gütiger Herr, schwärmen aus in den Weiten des Himmels und rufen, wirbeln Wolke auf, stupsen ihre Nasen in die wattige Welt – der Engel aber bleibt verschwunden. Er ist nicht auf der siebten Wolke anzutreffen, nicht im Tal des Liebeskummers und auch nicht in der Wiege der Geburten, wo er sich sonst so gerne aufhält. Erst als es bereits Abend wird, entdeckt ihn der Engel der Sehnsucht und bringt den Vermissten vor Gott. „Wieso hast du dich vor uns versteckt?“, fragt der seinen Engel mit Sorge im Blick und einem leichten Mahnen in der Stimme. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht – und nicht nur das! Der Tag ist kalt und harsch gewesen für die Menschen auf der Erde, weil du ihnen den Schutz deiner Flügel entzogen hast.“

Foto: Marieke Stern

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Zu Gottes großer Verwunderung zieht der Engel der Liebe darauf eine Schnute, wie er sie sonst nur vom Trotz oder der Ungeduld kennt. „Du hast seit Wochen nicht einen Gedanken an mich verschwendet!“, bricht es sogleich anklagend aus ihm heraus. „Wie bitte?“, fragt Gott verwundert nach. „Was meinst du damit?“ „Ich habe dich genau beobachtet!“, schnaubt der Engel der Liebe, offenbar ernsthaft verletzt. „Und du hast im Laufe eines Tages noch immer an jeden Engel gedacht. Auch der Engel der Missgunst hat seinen Platz in deinen Gedanken, der Engel der Hoffnung natürlich und der des Wunders, an jeden hast du gedacht, jeder findet Platz in deinem Tag, aber so oft ich dir in den Kopf gesehen habe, nicht ein Mal habe ich mich darin gefunden. Warum, was stimmt nicht mit mir, dass ich dir so egal bin?“

„Cherub“, tadelt Gott seinen Engel da milde. „Du weißt, es ist dir nicht erlaubt in meinen Gedanken umherzuspuken. Und sieh selbst, was dabei herausgekommen ist, Kummer und Verwirrung, sonst nichts.“ Doch der Engel der Liebe lässt sich nicht besänftigen. „So habe ich mich vielleicht nicht an die Regeln gehalten! Aber bin ich dir nicht immer ein ergebener Diener und zuverlässiger Bote? Wie kann es also sein, dass du nicht einen einzigen Gedanken an mich verschwendest, solange der Tag währt?“ Und Gott mustert seinen Engel mit großer Güte, während er spricht: „Du hast am falschen Ort nachgesehen. Nein, in meinen Gedanken konntest du keine deiner Spuren finden, treuer Diener der Liebe – denn dich trage ich im Herzen.“

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