Treibsand meiner Kindheit

Die Orte meiner Kindheit sind auf einer Bundesstraße aufgereiht wie Perlen an einer Kette. Als ich ein kleines Mädchen war, verlief diese Straße einreihig bis in die nächste größere Stadt. Ich konnte von der Rückbank aus meine Eltern beobachten, wie sie ungeduldig über die Trödler im Auto vor ihnen aufs Lenkrad klopften, unfähig, sie zu überholen. Als ich später zum Studium dort wegzog, besuchte ich die alte Heimat anfangs noch und oft wollte ich die verdammte Straße mit meinem Herz aufbiegen, um mir Platz zu verschaffen im Getümmel. Zweite Spuren und Umgehungsstraßen kenne ich nur von inzwischen seltenen Besuchsfahrten und immer noch fühlt es sich ein wenig an, als würde ich schummeln, wenn ich sie tatsächlich benutze.

Himmel über der alten Heimat. (WP)

Himmel über der alten Heimat. (WP)

Der Ort, in dem meine Schwester wohnt, kann heute mit einer solchen Umgehung ganz vermieden werden, und darin steckt für mich ein wenig Lebensrettung. Ohne diese schlanke Straße, die sich mit einem schicken kleinen Tunnel um den Ort windet, würde die Gegend wohl dort einfach für mich aufhören. Meine letzte Durchfahrt dieser Stadt liegt schon fast 15 Jahre zurück. Ich ließ die Umgehung damals rechts liegen, um auf meinem eiligen Weg noch schnell bei einem Bäcker zu halten. Mit einer Tüte voll warmer Brötchen brauste ich weiter bis zu dem neuen Zuhause meines Vaters, welches er nach der Trennung bezogen hatte.

Mein Paps war ein Frühstücksmensch und als er verstanden hatte, dass man diese schönste Mahlzeit des Tages nicht um acht Uhr einnehmen muss, wurde sie unsere gemeinsam liebste. Wir schmierten und knusperten viele Brötchen an diesem Tag. Ich erinnere mich, wie stolz er mir sein Häuschen zeigte, vor allem aber, wie er immer wieder von der Küchenbank aufstand um Kaffee zu holen, von dem er viel zu viel trank. Seine Bewegungen waren mir so vertraut und wirkten doch neu. Befreit, denn das war er und ich unfassbar glücklich für ihn. Wir haben an diesem Tag geräumt, geredet und viel gelacht. Als ich mich abends verabschiedete, drückte er mich fest: „Danke, Mädel, für alles.“ Zwei Wochen später hörte sein Herz auf zu schlagen. Dieser Morgen, den Arm voller Brötchen, war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Die geteerte Perlenkette bringt mich an dem Getränkemarkt vorbei, in dem meine Schwester und ich am Abend nach seinem Tod orientierungslos nach einem Saft suchten, der uns süßen Trost spenden sollte in diesem unmöglichen Moment. Mein Herz pocht schwer gegen die Brust und ich bewege mich vorsichtig durch jene Kurve, die niemand von uns je durchrasen wollte, weil wir aufgewachsen waren mit dem Kreuz an ihrem tiefsten Punkt, das von einem früh beendete Leben erzählt. Lebt hier überhaupt noch irgendwer?

Entlang der Straße thronen strahlend weiß Supermärkte, Tankstellen und Traffohäuschen. Ich kann hinter der sauberen Übermalung die gesprayten Buchstaben spüren, die damals immer wieder ihren Weg aus Dosen auf Wände fanden, von denen aber heute nichts mehr zu sehen ist. Ich komme an dem Schwimmbad vorbei, in dem ich meine jugendlichen Sommer verbrachte und blicke aus dem Autofenster auf den Basketballkorb, unter dem ein älterer Junge mich zu einem Date bat. Bei dem er dann versuchte, mich in sein Bett zu locken, erst zart, dann unter wüsten Drohungen, bis ich floh aus seiner Wohnung, zu Fuß durch die kalte Nacht.

Mein Weg führt mich vorbei am ersten Fastfood-Restaurant unserer Perlenkettenstädte, in dem meine Schwester und ich viele mampfende Stunden verbrachten. Ich passiere das Lokal, in dem wir nach dem Unfalltod einer Bekannten waren, die unserer frühen Babysitterin die beste Freundin war. „Das ist doch Mist. Viel zu früh“, flüsterte die an jenem Tag in mein Haar – und musste selbst, wenn auch zwei Jahrzehnte später, so doch auch viel zu früh gehen.

Orte, die mein Herz nie mehr betritt.

Orte, die mein Herz nie mehr betritt.

Lebt eigentlich noch irgendwer, dort, in der alten Heimat? Ganz sicher, immerhin fahren wir zu einem 80. Geburtstag an diesem verregneten Morgen. Sonne, dicke Tropfen, verhangener Himmel und Regenbögen wechseln in einem stetigen Reigen vor meinen Augen. Schnarchen klingt durchs Auto, das diese Strecke ebenso kennt wie ich, Thees Uhlmann flüstert Lieder, deren Texte man sich unter die Haut stechen lassen möchte, und nur die Gegenwart macht die Vergangenheit an diesen Orten erträglich. Und die Kurve, die ich früher mit geschlossenen Augen durchfuhr, wird mit einem Kreisel ausgebremst, dem ich brav folge. Neben mir schreit ein Gebäude das Wort „Glücksfabrik“ ins zarte Grau und die Kombination der Worte klingt als absurdes Theater lange in mir nach.

Dieser Bahnhof schließlich hat mich, als die Perlenkette durch meine alte Heimat noch mit nur einer Spur versehen war, mit dem Klang seiner Rangierzüge nachts in den Schlaf gesungen. In diesem Hof haben wir als Kinder eine Schatulle entdeckt, von der wir glaubten, sie berge echte Geheimnisse aus dem Krieg, aber ihr Inhalt stellte sich als Plunder heraus. Unter dieser Brücke habe ich vielen Autos die Vorfahrt gewährt und das Haus, vor dem ich schließlich halte, weckt in mir noch immer die absurde Hoffnung, auf mein Klingeln würde die Vergangenheit in ihrer innigsten Form die Türe öffnen. Doch jene Tür bleibt verschlossen und mein Blick geht zu dem Balkon, von dem ich über die Stadt schaute, nachdem ich zum ersten Mal im Leben eine Nacht durchgemacht hatte, in jenem wirren Sommer, als Lady Di in einem Tunnel starb. Mein Herz möchte bis heute nicht begreifen, dass es nie wieder auf diesem Balkon klopfen wird.

Das Haus, das wir gleich betreten, erzählt viele Geschichten. Die erste beginnt noch vor seiner Tür, an jenem Tisch, an dem das Geburtstagskind und ihr Mann mir einst von ihrer übergroßen Liebe erzählten. „Du wartest auf die Liebe und ich auf das nächste Bier“, singt Thees Uhlmann und mein Herz lächelt bei der Feststellung, wer die Liebe gefunden hat, kann gemeinsam auf das nächste Bier warten, so wie wir. Und so wie damals diese beiden, die mit großer Aufrichtigkeit ihr Leben in Worten mit mir teilten. Sie wirkte dabei so zerbrechlich und mein Herz zog sich klamm zusammen in der Angst davor, wir könnten uns nicht wiedersehen.

Doch gegangen ist ihr fürsorglicher, starker Mann – sie kämpft jeden Tag mit dem Verlust. So, wie ich an diesem Tag mit meiner Vergangenheit kämpfe, die hier aus jeder Wolke tropft. Es müssen mutige und starke Menschen sein, die da wohnen, wo sie geworden sind. Ich habe immer gerne hier gelebt, doch heute wischt diese Gegend mir wie Treibsand über die Brust. Als wir nach Hause starten, geht die Sonne auf über den Hügel meiner Kindheit. Ich folge ihr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.