Fremdschämen für Fortgeschrittene

Bei uns Zuhause hieß das früher „Mithörer-Lautstärke“ – Menschen, die so laut sprechen, dass alle Umsitzenden, -stehenden und -liegenden unfreiwillig an Unterhaltungen teilhaben, die sie nichts angehen; und sie im Zweifel auch nicht interessieren. Verwandt sind die „Mithörer-Lautstärke-Sprecher“ mit den „Ihre-Umgebung-Vergessern“, Zeitgenossen also, die in scheinbar abgetrennten, aber akustisch offenen Räumen nach dem Motto kommunizieren: Was ich nicht sehe, existiert nicht. Ebenfalls zur Familie gehören die „Schrei-Flüsterer“ – Personen, die sich zwar grundsätzlich um ein Mindestmaß an Diskretion bemühen, denen aber offenbar die eigenen Stimmbänder oder eine völlige Fehleinschätzung von Lautstärke einen Strich durch die Rechnung machen. Allen Dreien gemein ist, dass sie ihr Umfeld stärker an ihrem Leben und Denken teilhaben lassen, als es diesem in der Regel lieb ist und damit Reaktionen irgendwo zwischen Belustigung und akutem Fremdschämen provozieren. Letzteres gilt speziell für die „Ihre-Umgebung-Vergesser“, die an Orten wie öffentlichen Toiletten oder in jedem anderen Kabinen-Umfeld anzutreffen sind: Schwimmbad, Kaufhaus, Physiotherapie.

Manches hört man auch, ohne darauf zu achten. (Foto: Marieke Stern)

Manches hört man auch, ohne darauf zu achten. (Foto: Marieke Stern)

Während die Unterhaltung mit der besten Freundin von Schwimmbadkabine zu Schwimmbadkabine meist inhaltlich ohne Aufreger ist, sieht die Sache in der vermeintlichen Vertrautheit einer Behandlungskabine beim Physiotherapeuten schon anders aus. Geschenkt die Frage, warum Menschen in dieser Situation überhaupt ihre Seele sperrangelweit aufreißen und Privates bereitwillig preis geben – vielleicht verwechselt der eine oder andere Physio- mit Psychotherapeuten oder reagiert einfach auf Berührung mit Kommunikation. Aber wie soll ich mich unterm Rotlicht entspannen, wenn die Dame in der Nebenkabine lautstark über ihre sexuelle Unausgeglichenheit philosophiert und abschließend bemerkt: „Mein Mann sagt ja, ihn stört’s, dass ich mich net rasier, aber des ist mir zu blöd.“

Die „Mithörer-Lautstärke-Sprecher“ sind immer und überall unter uns und teilen sich weiter auf in jene, die gehört werden wollen und solche, denen es egal ist, ob sie gehört werden oder nicht. Derzeit ist die erste Spezies wieder auf Sommerfesten aller Art, öffentlichen Plätzen und im Straßencafé um die Ecke anzutreffen, wo sie ihrer geduldig lauschenden Begleitung Geschichten darüber am Ohr vorbei trompetet, wie großartig sie ist. Was sie Tolles leistet. Und dabei gerne die Unterbelichtung anderer Menschen einbezieht, zum Beispiel, „diese unfähige Kellnerin, die keinen Kaffee ohne Geschlabber an einen Tisch bringt“. Worauf sie – und das ist ihre unangenehmste Eigenschaft – beifallheischend den Sitznachbarn zunickt und auf deren Bestätigung wartet. Klassiker im Falle der zweiten Spezies sind Streitgespräche am Handy, gerne in Bus und Bahn, die häufig auf den Satz enden: „Ich schreie üüü-ber-haupt-nicht.“

Ein wenig vom Pech verfolgt sind die „Schrei-Flüsterer“, deren eigene Ungeschicklichkeit häufig von einer guten Portion Pech begleitet ist. Sei es an der Kasse im Supermarkt, wo sie ihrem Liebsten mit viel zu viel Druck auf den Stimmbändern mitteilen, „das vorhin am Weinregal war doch die Kollegin, die so stinkt“ – wobei nicht nur die Kassiererin neugierig ihren Blick hebt, sondern besagte Kollegin mittlerweile garantiert in Hörweite steht. Oder wie kürzlich beim Friseur, als sich eine Kundin schrei-flüsternd mit ihrer Stylistin darüber unterhielt, wie unmöglich viele der Salon-Kolleginnen frisiert seien. „Das ist doch komisch, wenn ausgerechnet ein Friseur mit so Kraut auf dem Kopf rumläuft“, wundert sich die Dame unterm Lärmen des Föns nicht annähernd so diskret, wie sie glaubt. Richtig peinlich wird es, als dessen Gebläse plötzlich für die Kundin unvermutet abbricht, mitten in ihren Vergleich: „Das ist ja wie eine Klofrau, die immer nebendran scheißt.“ Fremdschämen deluxe.

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