Wund.Brand

Foto: Thorsten Koch/pixelio.de

Foto: Thorsten Koch/pixelio.de


Herztod, vor dem Messer, das nie verfehlt.
Doch die Wunden,
die mir zugefügt wurden,
ergeben die eine, die ich bin –
offenblutend.

Und das Messer
dem ich niemals auszuweichen vermochte,
blitzt auf vor meinem Auge,
halb Gedanke, noch in der Welt.
Der Schmerz, der ich einst gewesen war,
bläst noch heute kühl in meine Richtung.

Dumpf trifft die Klinge, wo Heilung sich versuchte;
spritzt neues Blut aus alten Nähten; gurgelt Angst.
Vor dem, was sein; und könnte.
Auch nicht, wenn ich verwehre.

Doch einen zarten Keim,
der mir nach fremder Heilung schmeckt –
fand ich dort unter alten Dornen,
verborgen nun in meiner Tasche
und mitgenommen dahin,
wo die Reise endet,
auch wenn den Weg
von hier
ich niemals sah.

Scherben/Gesicht

Foto: PeterFranz/pixelio.de

Foto: PeterFranz/pixelio.de


Wutpochen unter dem Verband
getragen aus Gewohnheit nur –
denn wie es darunter aussieht
ist ein lang vergangenes Wagnis.

Was dort schmerzt geriet verloren
klafft das Fleisch, erstickt Textil.
Angstbeben vor der Nacht
gefürchtet aus Gewohnheit nur –
wo ihre Monster reißen wollen
bringt erst das Tageslicht hervor.

Während sie wütend Zähne blecken
spiegelt das Antlitz strahlend weiß.
Wenn wir auch brechen
im Dunkel des Fleisches
ertönt aus den Mäulern
doch nie ein Geräusch.

Jedoch, am Boden aufkommend,
steht es ja auch dir und mir zu
ein Mal, ganz sachte bloß, zu klirren.

Und von der Sonne, die sich
in den Scherben bricht, kann
man sich die Sicht nehmen
lassen oder den Weg weisen.

Lilly, Max. Und Jan…

„Hi“, sagt Jan, fast ein wenig schüchtern, als Lilly ihm die Tür zum Innenhof ihrer neuen Bleibe öffnet. „Hi“, antwortet Lilly und schiebt ein schnelles, „Mensch, wie lange haben wir uns denn jetzt nicht gesehen?“ hinterher, während ihr wieder auffällt, wie klein er ist. Er ist immer kleiner gewesen als Lilly, daran erinnert sie sich nun, genauso wie an seinen Bruder Max, der vielleicht noch etwas kleiner ist als Jan. Fünf lange Jahre haben die beiden sich nicht gesehen – im Grunde auch davor nie wirklich gekannt. Getroffen haben sie sich vor sieben Jahren im Sommer, damals war Lilly gerade dabei, mit ihrem Mitbewohner anzubandeln – und der hatte sie mitgenommen nach Köln, wo sie seine Clique kennenlernte. Jan war ihr gleich aufgefallen, aber dann eben doch nur so halb, denn sie war ja beschäftigt mit Kalle, dem Mitbewohner. Küssend und vom Glück gestreift; nur, dass es den Moment nicht überdauerte, in dem sie ihn mit Inga überraschte.

Aus einem Bauchgefühl heraus war sie damals nach Köln gefahren. Hatte dort ungezählte Wochenenden mit der Ex-Freund-Clique verbracht. An einem davon lernte Lilly Jans Bruder Max kennen, der so anders war: Als Jan, aber auch als alle anderen Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Er war Schreiner. Seine Hände rochen nach der Fettcreme, mit der er sie abends nach der Arbeit einschmierte, der ganze Kerl roch nach Holz, nach Urlaub in Kanada, nach anlehnen und sich wohl fühlen, nach Schutz und Geborgenheit. Und Lilly brauchte Schutz. Den aber konnte sie bei Jan nicht finden – und so gab auch sie ihm nichts mehr. Keine verspielten SMS, keine klugen Gespräche, kein scheues Lächeln mehr auf dem Weg zum biergefüllten Kühlschrank. Stattdessen aber: sich dem Bruder hin. Der Lilly jedoch auch nicht beschützen konnte, weil unter dem Holzfällerhemd ein verletztes Herz voller Narben schlug; das hatte sie übersehen. Genau wie die Tatsache, dass Max nicht mit dem Herzen auf sie reagiert hatte, sondern mit seinem Schwanz, der schön war und sie glücklich machte, doch nur für die Länge einer Nacht.

Foto: Radka Schöne/pixelio.de

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Jan aber war so weit gekommen auf seinem Rückzug in der Nacht, die Lilly mit seinem Bruder verbrachte, dass daraufhin nun er für lange Monate nicht auf sie reagieren wollte – ihre abermals durch die Winterluft gefeuerten SMS nicht beantworten und keine klugen Gespräche gewähren. Irgendwann hörte das Ignorieren auf, doch weder Jan noch Lilly stellten je die Frage nach einem Treffen. Es war ein verbotenes Areal, sie wussten es beide, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Bis jetzt plötzlich, wie aus dem Nichts dieses Wiedersehen, in jener fremden Stadt, die Lilly vor einer Woche in ihr pulsierendes Inneres gesogen hatte. Da steht er nun, Jan – und Lilly spürt mit einem Blick in sein offenes, verletzliches Gesicht, das noch nie fähig gewesen ist, Geheimnisse zu bewahren, dass er immer noch gerne der Eine wäre: der ihre. Sie mogeln sich durch den Tag. Lächeln, aneinander vorbei und schauen sich nicht in die Augen – weil sie zu feige sind um dem standzuhalten, was es dort zu sehen gibt.

Jan ist Chirurg, seine Hände sind blass und sehr feingliedrig und Lilly sieht sie an und sieht die Hände seines Bruders, spürt wieder, wie sie ihr heiß über den Körper gerannt sind in jener Nacht. Während Jan schafft, was Max nie gelungen ist: sie mit Worten zu verzaubern. Der Abend geht langsam in die Nacht über, doch egal wie viele Biere Jan und Lilly in ihre vom Reden trockenen Hälse schütten, etwas bleibt bestehen, das beide beklemmt. Sie will nicht, dass er geht, erträgt nicht zu wissen, dass er bleibt. Sie möchte das Besondere in ihm erkennen, ihn erlösen – und sich. Wünscht sich, dass auch er sie erkennt, sich verliert in ihr – und weiß doch, er hat sie nicht erreicht; wieder. Etwas ist in seinem Wesen, wogegen Lilly sich sperrt, was sie fürchtet und nicht aus der Versenkung holen möchte.

Eine Nacht lang lernen sie Menschen kennen, in den Clubs und Bars, die sie durchstreunen. Lilly flirtet, spürt seine Eifersucht, wohlig fast, entzieht sich ihm und lässt doch nicht los, bis sie endlich, in den frühen Morgenstunden, atemlos durchs Treppenhaus in ihre neue Wohnung wirbeln. Wo er ohne Vorwarnung beginnt, sie mit feindseligen Worten zu überhäufen, aus denen seine Wut auf die anderen Männer spricht, deren Blicken sie sich hingegeben hat. Lilly aber macht sich nur lustig über seine Eifersucht. Als er leicht nach ihr schlägt spürt sie, wie etwas durch die Luft geflogen kommt – nicht nur seine Hand, die sie leichtfertig abwehrt. Sondern auch eine hilflose Wut, zusammengeschnürt und platt gesessen, über Jahre schon. Und hält seine Hand, hält zum ersten Mal auch seinen Blick und gleich darauf sein Gesicht an ihrem, als er sich auf sie stürzt wie ein hungriges Tier, mit seinen Küssen frisst, zerbeißt und erregt, während seine feingliedrigen Hände über ihren Körper rennen, als seien sie auf der Flucht vor der Courage, die sie so plötzlich antreibt.

Als Lilly am nächsten Morgen wach wird, erinnert sie sich stumpf daran, wie er die Nacht in ihrer Mitte abrupt beendet hat, um Lilly seinen Respekt zu beweisen. Zu zeigen, er ist anders als sein Bruder – überlegt und überlegen: „Lass uns das lieber machen, wenn wir nüchtern sind“, spricht er, gegen den Willen seiner Hände und den ihres erregten Körpers. Sie spürt seine Nähe, nur unweit ihrer eigenen Wärme und hofft, wenn sie sich noch eine Weile schlafend stellt, wird er weg sein; doch er geht nicht, klebt am Bett wie ein alter Kaugummi. Während sie an den anderen denkt, mit dem karierten Holzfällerhemd und daran, wie ihr Herz an ihm gebrochen ist, ganz leicht. Damals, als er sie nicht beschützen wollte; nur vögeln.

Selbstmord in Gedanken

Foto:  Xenia B./pixelio.de

Foto: Xenia B./pixelio.de


Heute Nacht habe ich mich umgebracht. Ich habe das noch nicht oft getan. Doch der Zeitpunkt erschien mir günstig. Ich konnte nicht schlafen, mal wieder. Die Müdigkeit hat mich angenagt, seitlich. Der Hunger nachgelassen, aufs Leben. Mein Herz lag nutzlos neben dem Bett. „Was soll das alles noch bringen?“, habe ich mich gefragt. Im Dunkel des Schlafzimmers eine Zigarette geraucht. Den Kelch mit Wein ausgetrunken. Und nach den Tabletten geschielt. War mir aber nicht dramatisch genug. Wollte mit einem Knall gehen: Wenn schon denn schon. Also habe ich mich erschossen. Danach setzte die Stille ein. So ist das immer, denke ich. Als ich heute Morgen wach wurde, war Blut in meinen Laken. Und Blut auch an der Wand hinter meinem Bett. Beim nächsten Mal vielleicht doch Tabletten…

Spuren im Schnee

Es hatte über Nacht geschneit, obwohl in der Wettervorschau zuletzt steigende Temperaturen angekündigt worden war. Ihre Laune hätte besser nicht sein können, als sie wach wurde; doch wenig schlechter, als sie zunächst realisierte, wo sie sich befand. Und dann den weißen Puderstaub wahrnahm, der sich wie eine Decke über der Landschaft ausgebreitet hatte. Nur, dass es für sie keine schützende war, die wohlige Geborgenheit spendete, sondern eine, unter der alles an ihr zu ersticken drohte. Der Morgen kam und ging, änderte dabei nichts an ihrer Laune; zumal sie versäumt hatte, etwas zu besorgen, um ihn sich aufzuwerten. Diese englische Marmelade vielleicht, oder den neuen indischen Tee? Es schien, als sei sie auf kleinen Helfer angewiesen, um durch die Tage zu kommen. Immerhin, Kaffee hatte es gegeben, ein Vorteil gegenüber gestern. Es war nicht gut, die Nacht im Bett eines Fremden zu verbringen, zu oft konnten die Knaben am Morgen danach nicht mit Kaffee dienen. Aber wer einen Joint als den perfekten Wachmacher ansah, dem verursachte Koffein wohl ohnehin Herzrhythmusstörungen.

Spuren im Schnee

Sie hatte sich mit dem Kiffen nie angefreundet, wenn auch vermutlich nur, weil ihr bei den wenigen Versuchen, die sie mit der Droge gestartet hatte, übel geworden war. Dass sie grundsätzlich etwas gegen Drogen hätte, war so nicht haltbar; die meisten riefen nur bei ihr nicht die Wirkung hervor, für die andere die Rauschmittel schätzten. So blieb sie über die Jahre lediglich dem Rauchen treu; eher ungewöhnlich für eine Leistungssportlerin, aber, wie ihre letzten Wettkampfwerte gezeigt hatten, offenbar kaum abträglich. Sie brachte es auf etwa 30 am Tag, unbeeindruckt vom nun verstummten Wehklagen ihres Trainers, den scharfen Warnungen des Arztes und dem verständnislosen Kopfschütteln ihres Freundes. Freund, das sagte sich so, aber wo der eigentlich geblieben war – sie hatte keine Ahnung. Vielleicht trieb er sich mit anderen Frauen durch die Stadt, aber was sollte sie dagegen sagen? Immerhin trieb sie es in der einzig wahren Bedeutung des Wortes seit Wochen mit einem Kerl nach dem nächsten, allesamt ziemlich jung. Warum die Jungen, war ihr selbst nicht klar, immerhin konnte sie mittlerweile zwischen weniger gutem und schlechtem Sex unterscheiden – im Gegensatz zu den meisten dieser Anfänger.

Das Telefon klingelte, und obwohl ihr nicht der Sinn nach Unterhaltung stand, beantwortet sie sein Schrillen. „Hi, ich bin’s!“ Ihr Bruder schien aus Gründen, die sich ihr nicht erschließen wollten, der Meinung zu sein, er sei der einzige Mann, der sie mit Anrufen nervte. Dabei war ihr AB voll von „ich bin’s“ – und weiß Gott nicht alle von ihm. Andererseits, wie sollte er wissen, dass es all die Knaben gab, neben dem einen, den sie mitbrachte zu Familienfesten. „Was hältst du von ’nem Spaziergang?“ Der Schnee lockte sie nicht, dennoch sagte sie nicht ab und wenige Minuten später stand er vor ihr. „Was macht der Tennisarm?“ „Witzig, Jo! Wenn du willst, dass ich sofort wieder gehe, nur weiter so.“ „War doch nur ein Witz, stell dich nicht so an. Schmerzen?“ „Wie denn, du Depp?“ „Ich dachte, dass man…“ „Nein! Und ich will auch nicht drüber reden.“ Sie liefen schweigend die Straße hinunter, zum Wasser, dorthin zog es sie stets. Er hatte nie eine Richtung gehabt; niemand in ihrer Familie hatte eine Richtung. „Ist dir mal aufgefallen, dass im Schnee immer nur Spuren von Kindern sind? Also, nicht auf dem Gehweg, aber so daneben, in den Wiesen und so?“ Sie sah den schlaksigen Kerl betont desinteressiert an. Ein hübscher Junge, keine Frage.

„Du bist ein Trottel“, stellte sie fest, ohne auf seine Frage einzugehen. Er reagierte mit einem albernen Kichern, so als ob sie ihm ein Kompliment gemacht hätte. Schweigend gingen sie weiter. Sie dachte nach, in einer Intensität, dass sie glaubte, er müsse die Rädchen in ihrem Hirn bei jeder Bewegung quietschen hören. Aber nichts deutete darauf hin, dass er sie beobachtete oder auf eine ernsthafte Antwort auf seine eindringlich gestellte Frage wartete. Sie beantwortete sich diese im Stillen, als wolle sie ihn nicht daran teilhaben lassen, was ihr Kopf an Ergebnissen produzierte. Erwachsene glaubten, einen Weg erkannt zu haben, dem sie folgen mussten, dabei hatten sie nichts als ihre Unbeschwertheit verloren. Kinder, die wichen vom Wege ab, stürmten in die weiße Pracht, als ob es nichts Schöneres gäbe; nichts faszinierender sei als die Abdrücke ihrer kleinen Füße im leuchtenden Weiß. Je unterschiedlicher die Schuhprofile ihrer Gefährten, umso besser, es erhöhte den Zauber beim Spurenlesen. Nur unwillig erinnerte sie sich, dass als Kind auch sie den Schnee gemocht hatte.

„Schnee ist eh doof. Genau wie du. Und kleine Kinder.“ „Man, hast du eine Laune. Wie hält denn Mark das aus?“ Gar nicht, schmerzte sie, er legt meine ehemaligen Teamkolleginnen flach, während ich vom Hausmeister bis zum Vereinspräsidenten allen die Schwänze lutsche und wir uns beim Frühstück ins Gesicht lächeln und so tun, als wäre alles in Ordnung. „Och, der verträgt das ganz gut.“ „Marie, wieso willst du denn mit niemandem darüber reden?“ „Worüber?“, stellte sie sich dumm. „Den Unfall. Dass du keinen Schnee mehr magst. Und deine Klamotten bei einer Schneiderin darauf warten, abgeholt zu werden. Schreibst du mit links?“ Ich mache alles mit links, dachte sie bei sich, null Problemo, gar kein Ding, besten Dank. „Weil es nicht euer Problem ist.“ „Doch“, insistierte er, was ungewöhnlich war. „Denkst du, ich weiß nichts von Marks Affären? Oder glaubst du, deine hätten sich nicht rumgesprochen? Warum lässt du dir nicht helfen? Wieso hast du aufgehört, zum Arzt zu gehen?“

Marie spürte unvermutet ein heftiges Pochen in der rechten Schulter. Es fühlte sich an, als ob die Wunde aufplatzen wollte, auch wenn sie wusste, das war unmöglich. Jos Gequatsche machte sie wütend. Warum akzeptierte niemand, dass sie beschlossen hatte, das Thema nicht anzusprechen. Allein der Gedanken, dass ihre Sachen überhaupt bei der verdammten Schneiderin lagen, war unerträglich. Es gab Dinge, die konnte man nicht flicken. „Du willst wissen, warum ich aufgehört habe zu meinem Arzt zu gehen, du Affe?“ Jo nickte und schien tatsächlich aus ihrem Mund eine vernünftige Antwort zu erwarten; irgendwie rührend. „Weil er ein Dieb ist, Jo. Deswegen.“ „Was hat er dir denn geklaut? Geld?“ Marie verdrehte die Augen. Mit der Hand deutete sie auf ihre offenen Schnürsenkel. „Mach mal zu“, bat sie den Bruder barsch. „Wieso ich?“ „Weil ich mit links noch nicht binden kann, du Arsch“, murmelte Marie leise, und mit der Hand griff sie nach dem luftigen rechten Jackenärmel und wedelte ihrem Bruder damit vorm Gesicht.