sehn-sucht

Foto: Alwin Gasser/pixelio.de

Foto: Alwin Gasser/pixelio.de


im abschied zuckt ein leises sehnen
nach dem, was längst vergangen war
und blutet mir jetzt deine träne ins auge
trifft sie dort auf alle, die ich nie geweint
mag sein, der traum zerbirst vor uns im staube
mein herz legt sich schlafen und deines verneint

doch nenn uns niemals königskinder
sie konnten einander nicht finden
uns hat dein spiegelbild verraten
als es sich brach, am stamm der linden
denn was nutzt ein leben, und was es ersehnt
wenn erst tanzen mag, wer verlorenes wähnt.

Freitag + Ikea + Tchibo = Singlefrust³

Als Single durchläuft man verschiedene Phasen. Mal findet man diese Lebenssituation mehr, mal weniger toll. Manchmal drängen sich die Vorteile geradezu auf, dann wiederum lassen sich die Nachteile nicht übersehen. Sich nach niemandem richten zu müssen kann unheimlich entspannend sein – beizeiten würde man aber seinen ganzen Stundenplan auf einen anderen Menschen einstellen, nur, um sonntags nicht alleine zu sein. Vermutlich die selben Schwankungen, die man in einer Beziehung auch durchmacht – nur von der anderen Seite betrachtet.

Der Frust ist trotzdem ein anderer. In einer Beziehung hat man diesen mit etwas, das einen stört, ärgert, verletzt oder nervt – und womit man in irgendeiner Form umgehen muss, damit die eigene Seele, das eigene Leben wieder Gleichgewicht findet. Der Frust beim Single hat hingegen mehr mit Mangelverwaltung zu tun, damit, dass etwas fehlt – und bekommt so manchmal etwas Hektisches: Wer sich alleine fühlt, kann keinen Menschen aus dem Ärmel schütteln, dasselbe gilt für Nähe und Zweisamkeit. Entweder stopft man also die Lücke mit etwas, wovon man weiß, es passt nicht, ist nur Ersatz(handlung) – oder aber, man arrangiert sich irgendwie mit dem tauben Gefühl, dass da etwas fehlt.

Wer sich gerade in der „Leben-mit-Lücke“-Phase befindet, sollte eines auf jeden Fall meiden: Ikea-Warenhäuser; speziell an einem Freitagabend. Für die Solo-Dame ist ein Ikea-Besuch ohnehin schon grenzwertig, zumindest, wenn sie nicht mit außerordentlichem handwerklichen Geschick gesegnet ist. Ich für meinen Teil kann in der Wohnung ziemlich viel alleine regeln, aber spätestens, wenn Strom ins Spiel kommt, muss ich passen.

Ikea

Natürlich sehe ich beim Bummel durch die Katalogwohnungen in aller Regel Lampen, die wundervoll in meine Wohnung passen würde – aber bestenfalls direkt eine neue Leitung bräuchten; wenigstens eine Kabelkürzung. Oder große, sperrige, schwere Sachen, die ich alleine nicht einmal zum Auto bekäme. Wieso die Jungs bei Ikea nicht für ein paar Euro Tüten- und Kistenträger anbieten, ist mir ein Rätsel; was erstmal im Kundenkofferraum verschwindet, ist doch verkauft – und wie das Zeug dann in die heimischen Wohnungen kommt, darüber müssen die Schweden sich ja keine Gedanken mehr machen…

Nun also, Ikea. Und Hotdogs, das alleine ist schon ein Grund; und es hat Ausflugscharakter, das blaue Gebäude mit den gelben Buchstaben zu betreten. Wie früher, als Kind, nur dass ich mir heute Dinge kaufen kann, statt darum bitten zu müssen. Dafür muss ich sie natürlich auch selbst bezahlen. Und außerdem, außerdem war ich als Kind auch niemals alleine hier, so wie heute, mutterseelenallein, noch nichtmal ein Hotdog – die Schlange war zu lang.

„Schatz, guck mal, die Kissen würden doch super ins Wohnzimmer passen, oder?“ Na klar, direkt neben mir positioniert sich ein Pärchen, offenbar kurz nach Bezug der ersten gemeinsamen Wohnung. Noch ein bisschen high und mit viel Zucker in der Stimme.

Er: „Hmmh.“
Sie: „Guck mal, das lindgrün, ganz toll zu der roten Wand.“
Er: „Joah.“ (nimmt ein Kissen, guckt skeptisch)
Sie: „Gefällt dir nicht, Bärchen?“

Bärchen? Also ehrlich! Lindgrüne Kissen? Ach komm! Rote Wände? Nicht euer Ernst… Kommt, jetzt mault euch mal ein bisschen an, damit ich auch was davon habe.

Er (betrübt): „Ich finde die halt nicht so schön.“
Sie (tröstend): „Das macht doch nix, du. Dann nehmen wir andere.“
Heftiges, von ihr initiiertes Knutschen.
Sie: „Alles okay, mein Bär?“
Er (lächelnd): „Mhm!“
Greift die lindgrünen Kissen, packt sie in den Wagen.
Sie: „Aber was machst du denn?“
Er: „Wenn sie dir doch gefallen, Puppe.“
Erneut heftiges Knutschen.

Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause. (Foto: WP)

Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause. (Foto: WP)

Mir ist ein bisschen übel. Ich will keine lindgrünen Kissen und keine rote Wand. Ich will bei Gott keinen Typen, der sich Bärchen nennen lässt – und ich bin auch ziemlich weit entfernt von der Vorstellung einer Bärchen, äh: Pärchenwohnung. Aber dieses eeeklige Glitzern, was die beiden gerade in den Augen hatten… Seufz. Und dann natürlich: knutschen.

Stattdessen tröpfle ich an die Kasse, wo ich genau die zwei Teile zahle, die auf meinem Einkaufszettel standen – alleine das ist ein Zeichen dafür, dass ich es am Ende eilig damit hatte, aus dem Laden zu kommen. Nicht einmal einen Hotdog habe ich mir noch geholt, das will wirklich etwas heißen. Stattdessen, so beschließe ich, gibt es einen Blaubeermuffin von Tchibo: Niemand backt Blaubeermuffins wie Tchibo, zumindest niemand, der sie hinterher zum Verkauf in der Mainzer Innenstadt anbietet.

In dem kleinen Laden rückt mir bei der Betrachtung der Wochenangebote die Verkäuferin auf die Pelle, und ich fange unmerklich an, mit den Zähnen zu knirschen. Ich habe mal gelesen, in solchen Situationen solle es hilfreich sein, sich Goethes Zauberlehrling vorzusagen: Walle, walle undsoweiter – aber den habe ich leider niemals auswendig gelernt. Also: Flucht. Aber nicht ohne meinen Blaubeermuffin.

„War es das bei ihnen?“
„Nein, ich hätte gerne noch einen Muffin, Blaubeer.“
„Da gibt es heute zwei zum Preis von einem.“
„Danke, aber einer reicht mir.“
„Aber Sie müssen nur einen zahlen und bekommen zwei.“
„Das habe ich schon verstanden.“
„Also zwei?“
„Nein, danke.“

Die Verkäuferin mustert mich, als sei sie sich immer noch nicht sicher, ob ich ihr Angebot begriffen habe.

„Es macht keinen Unterschied. Ich berechne Ihnen jetzt einen – und sie können dafür zwei mitnehmen.“
„Das ist sehr freundlich, aber ich kann eh’ nur einen essen.“
„Dann verschenken Sie doch den zweiten.“

Ich habe das Gefühl, aus den Augenwinkeln sehen zu können, wie meine Pulsader arbeitet. Entweder drücke ich mich verdammt unverständlich aus, oder die Verkäuferinnen werden hier ordentlich darauf gebrieft, ihre Sonderangebote zu bewerben.

Blaubeermuffin

„Ich möchte bitte nur einen Muffin. Sie können ja einen verschenken.“
„Ich versuche ja gerade, Ihnen einen zu schenken.“

Und dann, zielsicher:

„Wieso bringen Sie ihn nicht Zuhause jemandem mit, der sich darüber freut?“

In solchen Momenten setzt die Realität für einen kurzen Moment aus und dafür ein kleiner Film ein. Darin springe ich über die Theke, schüttle die Verkäuferin an ihrer steifgebügelten Bluse und brülle: „Sagen Sie mal, sind Sie vollkommen bescheuert, oder was? Wie oft soll ich denn noch sagen, dass ich den dämlichen Muffin nicht will? Und schon gar nicht, um ihn Zuhause jemandem mitzubringen, sie Schnalle! Da ist nämlich niemand, kapiert? Ich wohne allein, ich bin allein und niemand, niemand interessiert sich, wenn ich gleich heimkomme, für meinen zweiten Blaubeermuffin, du aufdringliche, doofe Grinsebacke!“

Stattdessen lächle ich.
Nicke kurz.
Und verlasse den Laden mit zwei Muffins.

Von wegen Mangelverwaltung…

Spinat mit Ketchup

„Sie spielen unser Lied!“ „Ich weiß.“ Keiner sah den anderen an, während sie sprachen. Annas Worte hatten die Stille für einen Moment durchbrochen, doch nun war sie wieder da, ‚hello silence‘, voller Trost, schuf die Distanz, die er brauchte. Wenn er nur wenigstens kalt wäre, eindeutig. Wenn er sie von sich stoßen würde, mit aller Macht. Er liebte sie noch immer, das wusste Anna. Deswegen war sie bisher bei ihm geblieben. Und deswegen würde sie auch jetzt nicht von seiner Seite weichen. Sie tastete im Dunkeln nach seiner Hand; kalt. Er löste sich wortlos von ihr und verschwand in die Nacht.

Nachdem er sich auf das tote Gesicht konzentriert hatte, war seine Schwermut zurückgekehrt. (Foto: w.r.wagner /pixelio.de)

Nachdem er sich auf das tote Gesicht konzentriert hatte, war seine Schwermut zurückgekehrt. (Foto: w.r.wagner /pixelio.de)

„Es gibt Spinat.“
„Könnte ich das Ketchup bekommen?“
„Spinat mit Ketchup?“
„Warum nicht?“
„Weil das Ketchup den Geschmack des Spinats übertönt.“
„Vielleicht gerade darum.“
„Du hast mir nie gesagt, dass du keinen Spinat magst.“
„Ich habe kein Problem mit Spinat.“
„Dann brauchst du auch kein Ketchup.“

Die Enge des Zimmers erdrückte ihn. Früher war es ihm vorgekommen, als habe er mehr Platz, obgleich ihm einleuchtete, es konnte nicht sein. Er überlegte sich, ob er das zweite Bett rausstellen sollte. Er könnte es auch zu einer Art Couch umfunktionieren. Oder mit seinem zusammenschieben, vielleicht eine neue Matratze kaufen, eine große. Dann hätten Anna und er mehr Platz, wenn sie bei ihm übernachtete. Andererseits schliefen sie ja doch meistens bei ihr und ohnehin wusste er, er würde es nie tun. Er würde es nicht anrühren. Es sollte genau da stehen bleiben, wo es war; und am Liebsten wäre ihm, niemand würde sich je darauf setzen.

„Hallo Anna.“
„Hallo Ben.“
„ … “
„Wirst du auch etwas sagen, oder werden wir uns nur wieder stundenlang am Hörer festhalten, die Leitung blockieren, einander atmen hören und nicht in der Lage sein, irgendetwas zu ändern?“
„Es ist heute acht Wochen her, Anna.“
„Das weiß ich, Ben.“
„Auf den Tag genau.“
„Ich weiß doch….“
„Tut mir leid wegen gestern.“
„Schon o.k.!“
„Und wegen heute auch.“

Draußen schien die Sonne, aber er hatte die Rollläden heruntergelassen, so konnte er das Licht ignorieren. Heute Morgen, als er aufgewacht war, hatte sich sein Herz leicht, fast unbeschwert angefühlt. Doch nachdem er sich auf das tote Gesicht konzentriert hatte, war seine Schwermut zurückgekehrt. Er musste leiden, es war seine verdammte Pflicht. Beim Frühstück, das sie entgegen ihrer Gewohnheiten gemeinsam eingenommen hatten, war seiner kleinen Schwester ein lustiger Traum in den Sinn gekommen, den sie gleich zum Besten gegeben hatte. Um den Mund seiner Mutter hatte sich der Anflug eines Lächelns abgebildet, sein Vater hatte gar gekichert. Da hatte Ben stumm nach einem spitzen Messer gegriffen, und sich mit einer geschickten Bewegung das oberste Glied seines linken Ringfingers abgetrennt. Das Blut war aus den Gesichtern seiner Eltern gewichen, so schnell wie es aus seinem Finger quoll und spritzte. Seine Schwester schrie, das Blut floss. Ben verspürte Erleichterung.

„Warum haben sie das getan?“
„Ich brauche es nicht mehr.“
„Nun, ich brauche meine Nase auch nicht. Ich kann schon seit Jahren keine Gerüche mehr erkennen. Trotzdem schneide ich sie mir nicht ab, sie verstehen, wie ich meine?!“
„Nein.“
„Gibt es noch mehr Körperteile, von denen sie in nächster Zeit vorhaben, sich zu trennen?“
„Das entscheide ich spontan.“

Mit dem Rücken fest in die Matratze gepresst und dem Gesicht zur Wand gedreht, erlebte Ben die Wirkung der Droge. Die lachsfarbene Tapete bekam rötliche Flecken, die sich schnell, doch zittrig ausbreiteten, aus der Wand hinausliefen und über ihn hinweg. Die Farbe floss ihm in die Ohren und in den Mund, durchzog schlierenartig sein Gehirn und hinterließ auf seiner Zunge den süßlichen Geschmack frischer Fäule. Der verstümmelte Finger füllte sich mit immer mehr Blut, schwoll an und wurde lang und dick wie ein aufgeblasenes Kondom. Die Augen der Katze, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten, wirkten bedrohlich. Ihr Atem stank nach frischem Fisch und erinnerte Ben an Anna. Er stach der Katze die Augen aus und ihre Tränenflüssigkeit mischte sich mit seiner Kotze und dem Rot aus seinem erneut blutenden Finger.

„Ich kann dich nicht aufhalten, habe ich recht?“
„Ja.“
„Wirst du mich mitnehmen?“
„Nein.“
„Es war nicht deine Schuld, weißt du?“
„Anna…“
„Als wir glücklich waren, hast Du mich da geliebt?“
„Manchmal.“

Er ging und sie wusste, es war für immer. Sie würde es seinen Eltern sagen müssen. Aber noch nicht heute und auch nicht morgen. Es hatte Zeit, sie hatte… Und vor Freitag würden sie ihn ohnehin nicht vermissen.

„Du bist lange nicht mehr hier gewesen.“
„Und nach heute, werde ich nie mehr kommen.“
„Er lebte in der Vergangenheit, Anna. Niemand konnte ihn da rausholen. Er hat bis zum Schluss das Bett keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Auch Timos Spielsachen liegen bis heute darauf.“
„ … “
„Wusstest Du, dass er Spinat mit Ketchup mochte?“

Anna trat aus dem Haus, das ihr vorgekommen war wie ein Krematorium; nur, dass seine Toten noch lebten und seine Lebenden tot waren. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Vorgärten der biederen Häusersiedlung in ein Licht, das einen falschen Frieden vorgaukeln wollte. Vielleicht gab es dort Frieden, wo Ben jetzt war. Und vielleicht gab es auch dort Frieden, wohin sie unterwegs war, obschon sie nicht wusste, was ihr Ziel sein würde. Ihm folgen auf seiner Flucht vor der Vergangenheit würde sie nicht. Sie wollte der Zukunft begegnen, und sei es nur, um ihr ins Gesicht zu spucken.

Der ewige Gärtner

Das, was uns zerbrochen hat, rumorte zuerst lange tief in meinem Inneren verborgen – dann aber suchte es sich von dort seinen Weg an die Oberfläche, wo es schmatzend zerplatzte. Gleich einer eitrigen Wunde, die man hart gegen die Wand schlägt, nur einmal noch. Doch dort unten war es nur zu seinem giftigen Leben erwacht, nicht aber geboren worden. Hatte es nicht seinen Ursprung, sondern ward es bloß eingepflanzt. Von zitternden Händen, deinen. Denn du bist der Gärtner gewesen, der meine Zweifel gesät hat. Und sich dann darüber beschwerte, dass er sie ernten sollte. Eine einzige Wunde bin ich an dir geworden. Ich hatte das Tor zum Garten meiner Seele nicht fest genug verschlossen gehalten, als du dereinst mit deinem Päckchen feinster Zweifelsamen hindurch wolltest. Und so bist du hineingehuscht, im nackten Schatten einer gemeinsamen Nacht, weil mein „nein“ nur ein Flüstern gewesen ist. Nicht aber der eindringliche Schrei, den es zur Verteidigung meiner eigenen Haine gebraucht hätte.

Von der Nähe, die uns verband, ließ ich mir Sonnenblumen wachsen. (Foto: Lupo/pixelio.de)

Von der Nähe, die uns verband, ließ ich mir Sonnenblumen wachsen. (Foto: Lupo/pixelio.de)

Von der Nähe, die uns verband, ließ ich mir Sonnenblumen wachsen. Von den Zweifeln, die uns trennten, ließ ich mir den Seelenbrunnen ausgießen. Es schien, als hätten wir die beiden unterschiedlichen Pole eines Magneten verschluckt. Die zogen uns schon zueinander, immer betörend heftig, brennend leidenschaftlich, unfassbar unvernünftig – und am Ende. Stets unvermeidbar, der tödliche Zusammenprall. Doch neigten wir uns jeder nur ein wenig in die andere Richtung, dann begannen die beiden Magnethälften sich plötzlich heftig abzustoßen – und da, wo wir gerade noch aneinander festgewachsen waren, riss sich eine hässliche Wunde. Zwischen uns, ins blutrote Weltenfleisch. Und jede Anziehung verschlang immer noch inniger. Und jede Abstoßung schmerzte immer noch blutiger.

Es waren allein deine Zweifel, deren Samen uns trennten. Deren Wüchse mir zuerst die Sicht nahmen, bevor sie mich aufklaffen und bluten ließen. Doch du verstreutest sie stets aufs Neue. Damit du ihnen zuschauen konntest beim Wachsen. Nur an einem anderen Ort, als deinem eigenen, zitternden Seelenherzen, wo sie immer wieder neu hervorbrachen. Und dich damit tief verstörten. Sie aber hinter meinen Augen dunkel emporranken zu sehen, schien dich seltsam zu beruhigen. Denn niemand ist gerne allein. Schon gar nicht verrückt. Die Wunden noch zu heilen bedeutete, ein Ende in die Rinde meiner Herzkastanie zu ritzen, mit den Messern meines Verstands. Und dies Ende fragte nicht nach Grenzen und Zäunen, es überrollte die Gärten ganz. Es mähte die Wiesen und Parks mit seinen Klingen und löschte jede Spur, mit der du dir den Heimweg kennzeichnen wolltest. Auf deiner Flucht in den Wald. Dort suchst du nun, nach Herzkastanien. Doch du wirst sie nicht finden.

Komm, mein Mädchen!

Ich traf sie an einem Morgen, der zu warm war für den Monat, den der Kalender von sich behauptete in diesen Tagen. War in Eile, hatte einen Termin, kurze Zeit später, zu dem ich hetzenden Schrittes bereits unterwegs war. Im Gehen las ich die Zeit ab, als ich sie plötzlich erspähte – und etwas an ihr mich zwang, meine Schritte zu verlangsamen. Sie war schmal und klein; sehr klein. Es war nicht das Klein der alten Leute, wie sie so gen ihres eigenen Ursprungs zurück schrumpeln mit den Jahren, es war ein Klein, das immer schon gewesen sein musste, nicht erst mit dem Alter gekommen. Ihre Augen blitzten hellwach; da lag etwas in ihrem Blick, was zu deuten mir nicht gelingen wollte. Als ich sie entdeckte, stand sie, den Oberkörper über einen Stock gebeugt, vor einem Hauseingang an der belebten Straße, von der die Stadt in eine Acht und eine Sechs hinter der Elf geteilt wird. Sie schaute unschlüssig, dribbelte mal ein Schrittchen vor, mal eines zurück, sah sich um, stand still. Sah sich nur um. Entdeckte mich. Lächelte. Schaute unter sich. Und da bebte plötzlich etwas durch ihren Körper, einem Schluchzen gleich – obschon ich mich im Nachhinein fragte, ob es Erregung gewesen ist?

Ich bin nicht wie ihr... (Foto: Dieter Schütz/pixelio.de)

Ich bin nicht wie ihr… (Foto: Dieter Schütz/pixelio.de)

Ich lief zu ihr und fragte, ob ich ihr helfen könne. Kaum dass ich auf einer Höhe mit ihr war, ließ sie eine Hand von ihrem Stock gleiten und umfasste damit meinen Unterarm. Ich war erstaunt von dem festen Griff ihrer kleinen, faltigen Hand, unter deren Haut sich blau ihre Adern abzeichneten. Und etwas lag in diesem Erstaunen, dass sich schnell in meinem Körper ausbreitete, ohne mir seinen Namen zu verraten. „Nach da!“, deutete sie mit ihrem Stock nicht über-, sondern weg von der Straße. Ich hatte geglaubt, sie brauche Hilfe beim Überqueren, stattdessen schob sie mich nun, beide Hände um meinen Arm gekrallt – den Stock hatte sie mir übergeben – in Richtung eines Bäckers. „Mohnstreusel!“, forderte sie, im Inneren der kleinen Stehbäckerei. „Der ist leider aus“, entschuldigte sich die Verkäuferin. „Saftladen!“, fauchte die Alte an meinem Arm – und ich lächelte etwas hilflos hinter den Tresen, wo zwei Verkäuferinnen die Brauen hoben. Vor dem Bäcker schaute ich ratlos zu ihr herunter. Und ein wenig hilflos nach meinem Arm, der langsam taub wurde. Fragte, ob ich sie zum Bus bringen könne, womit ihr nun sonst geholfen wäre? Mit einer Stimme, die so gar nichts mit dem Keifen im Bäcker zu tun zu haben schien, schmeichelte sie, „einen Kaffee möchte ich trinken, aber nicht allein, bitte!“ – und deutete mit einer Kopfbewegung hinüber zu einer anderen Bäckerei.

Meine innere Abwehr gegen das Krallen und Gezerrtwerden war mittlerweile groß, doch ich schämte mich dafür und sagte mir im Stillen, wie hilflos und einsam das Bündel Mensch an meinem Arm sein musste: gleich einem Säugling, nur flinker – und meine Abwehr nicht angebracht. Also beschloss ich, der Alten ihren Wunsch zu erfüllen. In der Bäckerei bestellte sie mit kläffender Stimme Kaffee und ein Stückchen, die junge Verkäuferin brachte uns die Bestellung und es schien, als wolle sie Teller und Tasse lieber aus sicherer Entfernung herüberschmeißen, als sich uns zu nähern. Die Augen, dachte ich bei mir, sie hatte die Augen der Alten gesehen; etwas lag darin, was auch mich beklemmte. Sie begann zu erzählen. Von ihren beiden Söhnen, den nutzlosen Stümpern, sowie deren Ehefrauen, den dreckigen Flittchen. Einen, so bellte es aus ihr heraus, hatte gnädig der liebe Gott geholt, da war er Anfang dreißig. „Nachgeholfen hat er selbst noch!“, begann der Satz, der mit der Verzweiflung eines Menschen auf den Gleisen endete. „Richtig so!“, funkelte sie zu mir herüber – und da waren wieder diese Augen. Seine Frau, die habe anschließend eine Fehlgeburt gehabt, „zum Glück!“, glitzerte sie mich an.

Ich wollte etwas sagen, doch mein Mund schwieg stumm. Ich staunte das zarte, kleine Paket Mensch zu meiner Linken an und begriff nicht die vergifteten Worte, die aus ihr quollen. Es war, als kämen ihre Erzählungen in einer fremden Sprache aus der Alten herausgesprudelt, die ich mir später erst übersetzen müsste; und dann waren es wieder ihre Augen, die mich lähmten und an ihrer Seite hielten, für die Geschichte über den zweiten Sohn. „Fünfunddreißig Jahre!“, verkündete sie, habe es gedauert, ihn und seine Frau, das „nutzlose Stück“, auseinander zu bringen. Am Ende habe sie, die Mutter, über das „Flittchen“ gesiegt. Auch hier keine Kinder, „wahrscheinlich war die ausgetrocknet!“, frohlockte sie – dann senkte sich ihr eiserner Griff wieder auf meinen Arm und plötzlich wurde ihre Stimme eine andere: fast weich, vornehmlich aber weinerlich. „Er redet nicht mehr mit mir, mein Mädchen!“, brach es aus ihr heraus. Und mit den wenigen Worten die Wut und Verzweiflung über einen Sohn, der den guten Willen hinter den Taten seiner Mutter nicht erkennen konnte. Sie erinnerte mich nun an die eine, unter deren strengem Blick ich viele Jahre in sanftem Lilablau erstarrt gewesen war, weil das Schicksal mich einst zur Frucht ihres Leibes gemacht hatte.

Ich zahlte, wir gingen und sie ließ sich von mir zur nächstgelegenen Bushaltestelle begleiten. Wenn ich noch lange so mit ihr liefe, würde ihr eiserner Griff bald alles Blut aus meinem Arm gepresst, alle Wärme aus meinem Körper vertrieben haben. Als ich mich schließlich von ihr verabschiedete, griff ihre knochige, alte Hand nach meinem Haar und ich konnte den bläulichen Schimmer hinter der dünnen Haut neben meinem Gesicht tanzen sehen. „Dich, ja, dich hätte ich lieben können, das habe ich gleich erkannt!“, flüsterte der Klang ihrer Stimme sich drohend in meine Richtung – und darin lag ein Urteil, welches mich so schreckte, dass ich nicht anders konnte als zu rennen. Rannte, nur rannte und hörte nicht auf damit; bis ich endlich schwitzend und blutig in eine Wiese fiel, weit vor den Toren der Stadt, ein einzig verzweifeltes Lied auf den bebenden Lippen: „Ich bin nicht wie ihr! Ich bin nicht! Wie ihr! Bin nicht, ich bin, ich bin nicht wie ihr!“